Warnungen ignoriert: Unkritischer Einsatz von Reserveantibiotika in der Humanmedizin führt zur Selektion resistenter Bakterien
Berlin (aho) – Fast jedes zweite Antibiotikum, das in Deutschland von Humanmedizinern verordnet wird, ist ein Reserveantibiotikum. Darauf weist jetzt das Wissenschaftliche Institut der AOK hin. „Reserveantibiotika sollten nicht zur Therapie bei normalen Infektionen wie zum Beispiel Erkältungen eingesetzt werden“, so Helmut Schröder vom WidO in einer Presseinformation. „Sie sind – wie der Name sagt – die eiserne Reserve bei schweren Erkrankungen. Je sorgloser sie eingesetzt werden, desto resistenter werden Bakterien gegen Antibiotika.“ Das WIdO hat bereits 2001 in einer Antibiotika-Studie auf diese Gefahr hingewiesen. „Die aktuellen Verordnungszahlen belegen, dass diese Warnung leider immer noch aktuell ist“, betonte der stellvertretende Geschäftsführer des WidO.
Das WIdO analysiert jährlich mehr als 700 Millionen Arzneimittelverordnungen für die gesetzliche Krankenversicherung. Die Analyse der Antibiotika-Verschreibungen ergab, dass inzwischen in 46,5 Prozent der Fälle ein Reserveantibiotikum eingesetzt wird. „Therapiert werden sollte mit Reserveantibiotika jedoch nur dann, wenn Standardantibiotika nicht mehr helfen“, so Helmut Schröder. „Die goldene Regel beim Verordnung von Antibiotika lautet: So wenig wie nötig und so gezielt wie möglich. Nur so kann sichergestellt werden, dass die zukünftigen Therapiechancen eines Antibiotikums nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden.“
In Deutschland wurden laut WIdO im vergangenen Jahr insgesamt 40,6 Millionen Antibiotikaverordnungen im Gegenwert von knapp 760 Millionen Euro verschrieben. Die meisten Antibiotika je Arzt verschreiben Urologen, gefolgt von Kinderärzten, Hausärzten und Hals-Nasen-Ohren-Ärzten.
Im Schnitt hat jeder gesetzlich Krankenversicherte über einen Zeitraum von 5,2 Tagen eine Antibiotika-Therapie erhalten. Rein rechnerisch hat jedes Kind bis zum Alter von zehn Jahren über sechs Tage Antibiotika bekommen. Bei mehr als drei Millionen Kindern dauerte die Behandlung sogar zwei Wochen. „In Deutschland werden Kinder dreimal so häufig bei
Mittelohrentzündung mit Antibiotika behandelt wie in den Niederlanden, obwohl dies nach Ansicht von medizinischen Experten keinen Vorteil bringt“, erläuterte Helmut Schröder. Studien zeigen, dass bei Erkältungen in 80 Prozent der Fälle Antibiotika verschrieben werden, obwohl Bronchitis oder Rachenentzündungen zu mehr als 80 Prozent durch Viren verursacht werden.
Durch intensiven Einsatz von Antibiotika selektieren Bakterien Resistenzen gegen einzelne Wirkstoffe und Wirkstoffgruppen. Für diese zunehmende Resistenz sind nach Darstellung des Bundesgesundheitsministeriums hauptsächlich der unsachgemäße Einsatz von Antibiotika sowie die inkonsequente Anwendung von Empfehlungen zur Prävention von Infektionen verantwortlich. Die zunehmenden Resistenzen erschweren laut Ministerium bereits die Behandlung von bakteriellen Infektionskrankheiten.
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